Kurzgeschichten stellen für mich eine wunderbare Möglichkeit dar, in einzelnen Momenten zu verweilen,
die eine größere Geschichte um, und Ahnungen in sich tragen mögen, gleichzeitig aber auch alleine bestehen.
An dieser Stelle möchte ich zwei meiner eigenen Kurzgeschichten zum freien Lesen zur Verfügung stellen.
Keine Antwort
Mit weit ausgreifenden Schritten hastet sie durch den höhlenartigen Gang, dessen Lauf vor unzähligen Jahren ein Fluss durch den Berg gefressen hat. Es ist düster und kalt und sie spürt, wie die feuchte Luft über ihre Haut streicht, mit gespenstischen Klauen nach ihr greift. Das Licht ihrer Taschenlampe ist schwach. Schon bald wird ihre letzte Lichtquelle verloschen sein. Ein Gedanke, den sie weit von sich schiebt.
Immer wieder rutschen ihre glatten Schuhsohlen an den feuchten Steinen ab, die den Boden bedecken. Einer bringt sie beinahe zu Fall. Wütend tritt sie nach dem lästigen Hindernis und trifft doch nur ins Leere. Sie setzt ihren Weg fort, würde gerne fluchen, fürchtet aber den dumpfen Hall, der ihre Worte verzerrt.
Wie viele Schritte noch vor ihr liegen kann sie nicht sagen. Doch umkehren wird sie nicht.
Erneut bleibt sie stehen, streicht mit der linken Hand über ihre Rechte. Sie ertastet die dünne Schicht, die sich auf ihre Haut gelegt hat, die in der Feuchtigkeit ihres unterirdischen Gefängnisses unangenehm klebrig wird. Asche. Sie ist überall. In den Haaren, dem Nacken, im Gesicht, in ihrer Kleidung und darunter - krallt sich an ihr fest und nimmt ihr die Luft zum atmen. In einem Anflug von Verzweiflung versucht sie die Asche von ihrem Körper zu wischen, reibt so heftig an ihrem Arm, dass er schmerzt. Es hilft nichts. Sie muss weitergehen. Immer voran, denn zurück kann sie nicht mehr.
Er saß allein in dem kleinen Wohnzimmer seiner ebenso kleinen Wohnung am Fuße eines Berges und schob sich genüsslich eine Praline in den Mund. Eine einzige. Wie jeden Mittag. Kurz ließ er sie auf seiner Zunge ruhen, spürte, wie sich das Zartbitter langsam in seinem Mund ausbreitete. Dann drückte er die Praline in einer kräftigen Bewegung gegen seinen Gaumen. Die Schokoladenhülle platzte und die Füllung brach hervor. Ein flüchtiges Brennen kitzelte seine Zunge, dann spürte er die sanfte Wärme des Alkohols.
Vor ein paar Tagen hatte ihm seine Geliebte die Praline aus der Hand geschlagen und sie auf dem Teppichboden zertreten. Er hatte keine Fragen gestellt, denn Antworten bekam er schon lange nicht mehr.
Behutsam strich er über den Deckel der Pralinenschachtel. Diese Freude würde er sich nicht nehmen lassen.
Krachend fällt ein Holzbalken zu Boden und wird sogleich von den gierig züngelnden Flammen verschlungen.
Sie stand am Fuß des Berges. Wieder und wieder. Lange bevor es begann und auch kurz davor. Nächte reihten sich aneinander. Es war dunkel, und es war kalt.
Nun erleuchtet die Wohnung majestätisch und lichterloh brennend das Tal und den Berg und erwärmt die neugierige Menschenmenge. Es solle noch ein Mann in dem Haus sein, wird gemunkelt. Jemand müsse ihn retten, doch in dieser Nacht findet sich kein Held.
Mit weit ausgreifenden Schritten hastet sie durch den höhlenartigen Gang, dessen Lauf vor unzähligen Jahren ein Fluss durch den Berg gefressen hat.
Niemand ist bei ihr und kann fragen: »Warum?«
Vielleicht würde sie lächeln, vielleicht würde sie weinen. Und nichts davon wäre Antwort genug.
Die Locke
Das Bier in seinem Glas ist schal. Zumindest erscheint es ihm so. Normalerweise wäre er bereits beim Dritten. Doch heute ist es anders.
Sein Blick wandert wieder zu dem Spiegel über der Bar. Versunken betrachtet er die zwei jungen Frauen, die hinter ihm an einem Tisch sitzen. Die eine hat übergroße Hände, die er mehr bei einem Mann als bei einer Frau erwartet hätte. Doch sie interessiert ihn nicht.
Er sieht die Locke.
Sie hat sich gelöst. Aus dem Zopf, zu dem die andere Frau ihr Haar geflochten hat. Wallendendes, rotes Haar, in der strengen Frisur gebändigt.
Wie es wohl wäre, diese Locke zu sein? Hinab zu hängen und doch zu schweben. Federleicht über warme Haut zu streichen, die feinen Nackenhärchen zu kitzeln und sich von ihnen kitzeln zu lassen. Nachgiebig jeder Bewegung zu folgen und sich doch geschmeidig federnd den eigenen Willen zu bewahren.
Vorsichtig könnte er sie berühren. Nicht mehr als ein flüchtiger Windhauch oder das sanfte Streicheln einer Feder. Vielleicht würde er auch auf der Feuchtigkeit ihrer Lippen verharren, den warmen Atem spüren und spielerisch nach ihrer Zunge tasten, darauf warten, dass sie ihre Hand hebt und nach ihm greift, ihn zur Seite streicht oder betastet, befühlt, in einer abwesenden Geste um den Finger wickelt.
Eine unerwartete Bewegung reißt ihn aus der Versunkenheit. Die Rothaarige steht auf. Sie kommt auf ihn zu. Er senkt den Blick und sitzt wie erstarrt. Die Tischplatte verschwimmt vor seinen Augen, der Atem stockt. Einen kurzen Moment lang glaubt er, ihr Haar auf seiner Haut zu spüren, doch dann ist sie schon an ihm vorbeigegangen.
Mit zitternden Händen greift er nach seinem Bier und nimmt einen kräftigen Schluck. Es schmeckt alt und verbraucht.
Widerwille erfasst ihn und Wut, die ihn durchzuckt. Ganz kurz. Erneut hebt er das Glas zum Mund. Auch dieses Mal ist das Bier nicht angenehm, aber dennoch erträglicher. Mit einem dritten Schluck vertreibt er die letzte Bitterkeit von seiner Zunge.
Er leert das Glas und winkt den Barmann herbei, um ein neues zu bestellen.