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Unheilvolles braut sich in einer Welt zusammen, von deren Existenz

der 22-jährige Student Ben nichts ahnt ... mehr

Leseprobe

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Prolog



Es ist wieder soweit.

Geschwächt sinkt Sanmaal gegen eine Holzsäule seines Bettes. Die kunstvoll geschnitzten Verzierungen drücken hart gegen seinen Oberarm, doch das nimmt er kaum wahr. Erschöpfung verschleiert seinen Blick. Er muss sich zur Ruhe begeben, auch wenn ihm dieses Eingeständnis seiner Schwäche widerstreben mag.

So groß waren jene Anstrengungen des Tages, die vor kurzem noch zu unwichtig gewesen wären, um ihnen auch nur einen flüchtigen Gedanken zu schenken. Selbst die kleinste Bewegung gleicht inzwischen dem Erklimmen eines Berges.

Und nicht nur körperlich ist Sanmaals Kraft am Ende. Nein, viel schlimmer noch: Mit jedem Atemzug spürt er die nurische Energie aus seinem Körper weichen, als sei er ein Sieb gefüllt mit feinem Sand. Und umso mehr sie ihn verlässt, desto schwerer fällt es ihm, neue aufzunehmen. Sanmaal hat die Kontrolle über jene Macht verloren, die ihn am Leben erhält. Jene Macht, die ihn und seinesgleichen über die gewöhnlichen Menschen erhebt.

Er wird sterben.

Klar und unleugbar steht ihm der Gedanke vor Augen, besiegelt das unabwendbare Schicksal. Und dies, nachdem er seinem Ziel so nah gewesen ist. Nachdem er so kurz davor stand, unbeschreibliche Macht zu erlangen. Doch er wird niemals zum Höchsten emporsteigen, sondern zu Staub zerfallen. Sanmaal geht elendig zu Grunde und kann nichts weiter tun, als den Verfall zu beobachten.

Eine Woge heißen Zorns steigt in ihm auf, schreit danach, all jene mit sich in den Tod zu reißen, die er hatte unterwerfen wollen, schreit gegen die Ironie des Schicksals an und gegen die Unvermeidbarkeit des Kommenden. Aber sofort kämpft er die überschäumenden Emotionen nieder. Seine Zeit ist viel zu wertvoll, als dass er sie mit sinnlosen Wutausbrüchen verschwenden kann.

Es muss eine Lösung geben. Die gibt es immer.

Sanmaal blickt auf das breite Bett, an welchem er lehnt, und sieht im schwachen Mondlicht die Silhouette seiner Gemahlin. Sie schläft still und friedlich, ahnt nichts von dem Kampf, der neben ihr tobt.

Natürlich gibt es eine Lösung. Die Frage ist nur, ob er sie rechtzeitig finden wird.

Unter Anstrengung all seiner Kraft schleppt Sanmaal sich zum Fußende des Bettes und entledigt sich seiner edlen Bekleidung: kniehohe Lederstiefel, Hemd und Hose aus feinster Wolle und das kurzärmlige Übergewand mit dunkelblauer, kunstvoll bestickter Borte aus Trield – einem Stoff, der gleichzusetzen ist mit Macht und Reichtum. So angenehm ihn diese Hülle sonst auch umschließt, will er sie im Moment nur noch von seinem Körper streifen. Das Gewicht des Stoffes lastet schwer auf ihm.

Ein Kleidungsstück nach dem anderen fällt zu Boden und breitet sich vor seinen Füßen aus.

Da zieht ein Aufleuchten im Dunkel Sanmaals Blick auf sich. Es kommt von der gegenüberliegenden Wand, an welcher ein einladend großer Spiegel hängt. Die Monde haben sich vollständig von der Wolkendecke befreit und treffen nun mit unverminderter Helligkeit auf die gläserne Fläche.

Sanmaals Blick verharrt auf dem Spiegel. Kurz meint er dort seine Gemahlin zu sehen, wie sie sich, gehüllt in die schönsten Stoffe und neusten Moden, begutachtet. Das Bild verschwimmt jedoch sofort wieder und ein neues formt sich, zeigt seinen nackten, entblößten Körper. Dunkelheit umwölkt seine Stirn.

Und in plötzlichem Erschrecken, einer düsteren Vorahnung gleich, wendet Sanmaal sich vom Spiegel ab, blickt zu seiner Gemahlin hinüber. Sie schläft noch immer. Kaum merklich hebt und senkt sich das Leinentuch, welches ihren Körper bedeckt.

Erleichtert atmet Sanmaal aus, merkt erst jetzt, dass er die Luft angehalten hat. Er kann auf keinen Fall riskieren, von ihr gesehen zu werden. Nicht jetzt, während seine Kraft sich dem Ende nähert und sein wahres Äußeres aus ihm heraus zu brechen droht.

Es ist ein furchtbarer Anblick und zugleich ein furchtbar faszinierender. Sanmaals Blick kehrt zum Spiegel zurück. Er kann sich dem Schauspiel ebenso wenig entziehen, wie er den Vorgang zu verhindern vermag. Und so steht er da und beobachtet. Mit flacher Atmung und versteinerter Miene.

Die Veränderungen nehmen ihren Lauf und unaufhaltsam schwindet Sanmaals Maskerade. Sie fällt in sich zusammen wie die Blume von Errn, welche jeden Abend ihre eigene Blüte nicht mehr tragen kann.

Wie lange noch wird Sanmaal durchhalten können? Seine mentale Kraft ist herausragend, sein Wille unbeugsam. Nicht umsonst ist er unter den Seinen nicht nur einer der Besten, sondern auch der Mächtigsten. Oder zumindest war er dies.

Zorn spannt Sanmaals Gesichtszüge, kaum sichtbar unter der grotesken Fratze des immer stärker werdenden Schmerzes. Verrottendes Fleisch, eiternde Narben, die seinen gesamten Körper zeichnen, zehren an seiner Menschlichkeit. Unzählige Risse zerfurchten seine Haut. Blut quillt in kleinen Rinnsalen aus ihnen heraus, trocknet sofort und bildet neue Krusten. Auch unter seinen ergrauenden Haaren bricht eine Narbe hervor und zerreißt seine Haut in beängstigender Geschwindigkeit. Jedoch ist diese Furche seit einiger Zeit nicht mehr komplett. Ein winziges Teilchen hat sich gelöst und lässt seitdem immer wieder eine kleine Blutspur über seine rechte Wange laufen.

Und erneut ist Sanmaal überwältigt von der Faszination dieses Schauspiels. Für einen kurzen Moment ist sein Zorn vergessen und sein Körper scheint der eines anderen zu sein, ein fernes Bildnis von Krankheit und Zerfall. Es ist ein gefährlicher Gedanke, eine gefährliche Wahrnehmung. Denn auf keinen Fall darf Sanmaal seinem Geist gestatten, der Situation zu entfliehen. Er blickt seinem Untergang entgegen und dies zu verleugnen, würde zu nichts weiter führen, als seinem endgültigen Ende. Während Sanmaal die Realität vor jedermann verbergen muss, kann er selbst ihr nicht den Rücken kehren.

Und so, nur um neben seiner Gemahlin ruhen zu können, beginnt er unter größter Willensanstrengung damit, sein wahres Äußeres erneut zu verschleiern. Stück für Stück ruft er die Illusion des gesunden Mannes hervor.

Dieser Vorgang ist in seinen Grundzügen nichts Neues. Schon früher hat Sanmaal wiederholt sein Aussehen gänzlich verändert, auch wenn er von Natur aus mit einem anziehenden und vor allem vertrauenerweckenden Gesicht gesegnet sein mag. Sanmaal war niemals eitel, verachtet vielmehr jene, die sich alleine auf ihr wohlgeformtes Äußeres stützen. Doch gleichermaßen war er nie blind gegenüber der Wirkung eines freundlichen Lächelns in einem ansprechenden Gesicht. Und einen bestehenden Vorteil nicht zu eigenen Gunsten zu nutzen, ist nach Sanmaals Meinung die größte aller Dummheiten.

So war ihm sein Aussehen immer ein ebenso willkommenes Werkzeug, wie auch die äußerst seltene Fähigkeit der Täuschung. Denn mit Wohlwollen angesehen zu werden, kann von ebenso großem Vorteil sein, wie von Zeit zu Zeit gänzlich unerkannt umherzuwandern.

Inzwischen jedoch muss Sanmaal seine Erscheinung unablässig und gewissenhaft formen, sich hinter der Maske der Normalität verstecken. Sollte seine wahre Gestalt ans Licht kommen, würde man ihn als letzten Überlebenden der Verräter erkennen. Als jenen, der sowohl seiner Hinrichtung als auch dem endgültigen Zerfall des eigenen Körpers entkommen ist. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.

Sanmaal ist nicht bereit aufzugeben. Wird niemals bereit dazu sein. Erneut kämpft sich Zorn an die Oberfläche seines Geistes, und diesmal heißt er ihn willkommen. Er hält ihn, kontrolliert ihn, formt in der Wut die Kraft seines Willens.

Sanmaal öffnet seine Augen, die sich ohne bewusstes Zutun geschlossen hatten, und sein sonst so schneller Geist braucht ein paar Momente, bevor er versteht, was ihm nun aus dem Spiegel entgegenblickt. Oder vielmehr: wer.

Sanmaals Gemahlin war schon immer zart und liebreizend. Und selbst jetzt, mit ihren großen Augen voller Schock, erscheint sie ihm wie eine märchenhafte Erscheinung.

Er wendet sich zum Bett, wo seine Gemahlin nicht mehr schläft, sondern aufrecht sitzt.

Sie blickt ihm regungslos entgegen. Das Bettlaken ist von ihrem Oberkörper gerutscht und ihr weißes Nachthemd leuchtet fast so hell wie die Monde selbst.

Auch wenn Sanmaal inzwischen wieder aussehen mag wie immer, spricht der Gesichtsausdruck seiner Gemahlin eine furchtbare Wahrheit: Sie hat die Verwandlung gesehen, den Verfall, den er so angestrengt zu verbergen sucht.

Eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel und rinnt über ihre rechte Wange wie zuvor das Blut über die seine. Unwillkürlich fasst Sanmaal in sein Gesicht und spürt Feuchtigkeit, entdeckt mit dieser Geste das Blut, welches seinen Körper noch immer bedeckt. Wortlos lässt er die Hand sinken.

Sein Schweigen trifft auf das ihre, als gäbe es nichts, das sie einander sagen könnten.

Sanmaal spürt die Stille des Raumes auf sich lasten, während er langsam auf seine Gemahlin zugeht. Sein vom Mondlicht geformter Schatten fällt auf das Bett und greift nach dem weißen Nachtkleid seiner Gemahlin. Furcht und Stärke sprechen gleichermaßen aus ihrem junggebliebenen Gesicht. Es ist ein wunderschönes Spiel der Emotionen. Sanmaals Gemahlin war schon immer ein Geschöpf der Gegensätze und sie ist die einzige, der es jemals gelang, sanfte Gefühle und wahre Zuneigung in ihm zu erwecken.

Sie ist einmalig in seinem Leben.

Sanmaal spürt den Impuls, mit beruhigenden Worten auf sie einzuwirken. Er will sich erklären, sich rechtfertigen, obwohl er dergleichen niemals tut. Aber kein Laut gelangt über seine Lippen. Denn sie hat seine wahre Gestalt gesehen und mag geschockt sein. Doch sie ist keineswegs überrascht.

Enttäuschung liegt in ihrem Blick.

Und als Sanmaal mit einem letzten Schritt direkt vor dem Bett und vor seiner Gemahlin zum Stehen kommt, steigt furchtbare Traurigkeit in ihm auf. Es ist irritierend, eine neue und unwillkommene Emotion.

Wie von einem Sog erfasst, beugt Sanmaal sich nach vorne, sinkt weiter in die Aura seiner Gemahlin. Bis nur noch eine Handbreit zwischen ihren Gesichtern liegt.

»Deine Augen schimmern rötlich«, flüstert sie ihm zu, und ihre Worte sind wie eine intime Berührung.

Sanmaal möchte sie spüren. Langsam hebt er die Hand zur Wange seiner Gemahlin, streicht über tränenfeuchte Haut hinab zu ihrem Hals, zu ihrer Kehle. Ihr Atem berührt seine Lippen wie in einem Kuss, der sein könnte.

Für einen kurzen Moment schweben Erinnerung und Versprechen zwischen Sanmaal und seiner Gemahlin. Doch in seinem Kopf wird alles übertönt von der Frage, die er nicht stellt: »Würdest du mich verraten?«

Er kann ihren Atem nun nicht mehr spüren. Stattdessen bohren sich ihre Finger in seinen Oberarm und sein Handgelenk. Sanmaal hat die Hand um ihre Kehle geschlossen, und er wüsste nicht zu sagen, ob dies eine bewusste Entscheidung war oder nicht. Seine sonst so geordneten Gedanken sind verschwommen, als seien sie hinter einem Schleier verborgen.

Er verstärkt seinen Griff und legt die bisher freie Hand in den Nacken seiner Gemahlin. Letzteres ist eine Berührung, die ihm vollkommen natürlich erscheint. Eine Berührung, die bisher immer willkommen war. Doch dieses Mal setzt seine Gemahlin sich zur Wehr, windet sich in seinem Griff, zerrt erfolglos an ihm, an seinen Armen und Händen, schlägt nach seinem Gesicht.

Sie ist so wild und gleichermaßen so zerbrechlich.

Sanmaal legt seine Stirn gegen ihre. Er schließt seine Augen und verstärkt weiter seinen Griff. Im Körper seiner Gemahlin spürt er das Fließen der nurischen Energie. Es ist beinahe als würde sie vibrieren. Und jeder Punkt, an dem er ihre Haut berührt, fühlt sich so gut an, so belebend.

Sanmaal weiß, dass seine Gemahlin sich nicht nur mit ihrem Körper zu wehren versucht. Auch wenn sie nicht die Stärkste unter den Nuriern sein mag, kann sie die Energie für sich nutzen. Dennoch nimmt Sanmaal keinen unsichtbaren Stoß wahr, keine Gewalt außer der, die ihre hilflosen Hände ausüben.

Er weiß nicht, ob er sich in seinem momentanen Zustand gegen nurische Fähigkeiten zur Wehr setzen könnte. Und eine verlorene Stimme tief in ihm will seine Gemahlin anschreien, will ihr befehlen, sich mit allem zu wehren, was sie hat.

Aber vielleicht versucht sie dies auch? Die Energie in ihr dringt immer intensiver auf Sanmaal ein.

Sein Körper scheint in Flammen zu stehen. Und er spürt, wie sich die Risse und die Wunden in seiner Haut wieder zur Schau stellen, wie ihm die Beherrschung über sich selbst immer weiter entgleitet.

Sanmaal lässt sich nach vorne fallen, presst seine Gemahlin in die luxuriöse Matratze ihres Ehebettes. Sie fühlt sich so gut an unter ihm. Besser als jemals zuvor. Er küsst sie nun doch. Und auch wenn sie seine Leidenschaft nicht erwidert, auch wenn ihre Bewegungen schwächer werden, scheint sie das reine Leben auszuströmen. Es ist überwältigend und Sanmaal will mehr.

Purem Instinkt folgend, öffnet er sich seiner Gemahlin. Er öffnet sich ihrem Wesen, ihrer Kraft, ihrer Weiblichkeit, bis sie ihn in jeden Bereich seiner Existenz erfüllt.

Ihre Erinnerungen sind in ihm, als seien es die eigenen. Sanmaal sieht sich als junges Mädchen im Garten seiner Eltern. Er bohrt seine Finger tief in die feuchte Erde der Blumenbeete, auch wenn er weiß, dass sich ein derartiges Verhalten nicht ziemt.

Er sieht sich als junge Frau, als Schülerin, die noch lange nicht ihre nurischen Fähigkeiten gemeistert hat. Er sieht die begehrlichen Blicke manch ihrer Mitschüler und die des Meisters und fragt sich, ob er sich letzterem wohl ergeben sollte. Er ist neugierig.

Er sieht sich als erwachsene Frau, lächelt einen Mann an, in den man sich nicht verlieben sollte. Aber er weiß, dass die Stimme der Vernunft bereits verloren hat.

Er sieht seine Hochzeit durch seine eigenen Augen und durch die seiner Gemahlin, ist eins mit ihr und kann nicht mehr von ihr lassen.

Doch je intensiver die Verbindung wird, je länger Sanmaal diesen berauschenden Moment mit seiner Gemahlin zu halten versucht, desto mehr entgleitet sie ihm.

Und dann ist es plötzlich vorbei.

Während sie in einem Augenblick für Sanmaal noch eine Quelle des Lebens gewesen war, nimmt er nun nichts weiter wahr als ihren reglosen Körper.

Langsam löst er seine Hände von ihrem Hals und richtet sich in eine kniende Position auf.

Seine Gemahlin ist tot. Sie ist nicht mehr liebreizend oder stark. Und mit Sicherheit nicht schön. Sie wird ihn nicht mehr anlächeln, und sie wird ihm auch nicht mehr mit Enttäuschung entgegen blicken.

Sanmaal spürt, er sollte voller Trauer sein oder zumindest Bedauern empfinden. Stattdessen fühlt er sich gut. So unermesslich gut.

Auch ohne es zu sehen, weiß er, dass sich seine Wunden geschlossen haben, dass sein gesundes Aussehen keine Illusion mehr ist. Neue Kraft durchflutet seinen Körper und nurische Energie erfüllt ihn wie nie zuvor. Es ist berauschend und Sanmaal lacht. Er hat schon lange nicht mehr gelacht.

Durch die Verbindung mit seiner Gemahlin muss er ihre Energie in sich aufgenommen haben. Ein rein instinktiver Akt. Und die mögliche Rettung für ihn.

Das grundlegende Problem bleibt bestehen. Selbst in seiner Euphorie erkennt Sanmaal sein noch immer bestehendes Unvermögen, die Energie in sich zu halten. Doch wenn er mit einem anderen Nurier wiederholen kann, was mit seiner Gemahlin geschah, wird er den eigenen Niedergang verhindern.

Es ist möglich. Es muss möglich sein.

Ein abwesendes Lächeln umspielt Sanmaals Lippen als er sich im Schneidersitz neben den leblosen Körper seiner Gemahlin setzt und seine Augen über sie gleiten lässt, als würde er sanft ihre Haut berühren. Ein leises Raunen ermahnt ihn, Trauer zu empfinden. Er streift es mühelos von sich.

Er ist leer. Und er ist erfüllt von Energie.

Irgendwann steht Sanmaal auf und geht gemächlich an eines der Fenster, aus welchem er einen weiten Ausblick auf die nächtliche, von den Monden erhellte Landschaft hat.

Er muss seine Gedanken sortieren und das weitere Vorgehen genauestens planen. Gestohlene Energie, stärker in ihm als jede, die er zuvor hatte nutzen können –, das ist nicht nur der Schlüssel zu seinem Überleben sondern zu einer völlig neuen Existenz. Ihn wird es noch geben, wenn all seine Gegner zu Staub zerfallen und in Vergessenheit geraten sein würden. Das Blatt hat sich gewendet. Aber er muss vorsichtig handeln, sein neues Wesen vorerst im Verborgenen halten. Der Jäger, der sich heimlich an dich heranpirscht und zuschlägt, bevor du auch nur ahnst, welches Unheil dir droht. Je länger dieser Gedanke Sanmaal erfüllt, desto besser gefällt er ihm. Über die Schulter hinweg blickt er zu der Leiche in seinem Bett. Dieses Problem muss zuerst beseitigt werden. Danach kann er sich seiner neu entdeckten Fähigkeit widmen. Und seiner Zukunft.





Kapitel I


Zu einer anderen Zeit, an einem gänzlich anderen Ort



Es war nichts und es war alles zugleich. Ein Märchen, das zu kunstvollen Worten und pompösen Gedanken einlud.

Ben stand am Ufer eines weiten Sees, dessen silbern schillernde Oberfläche das sanfte Gleiten der Wolken widerspiegelte und das Bild der ihn umgebenden Bäume in sich aufnahm. Immer wieder hauchte der Wind seinen Atem über das Wasser und vergnügte sich in kleinen Kapriolen des nachgiebigen Elements, um gleich darauf zu verschwinden als hätte es ihn nie gegeben.

Auf einem der Bäume am Ufer des Sees saß ein rotgefiederter Vogel. Ein einzelner Lichtstrahl lugte hinter den Wolken hervor und zauberte ein Leuchten auf das Gefieder des kleinen Wesens. Es sang sein betörendes Lied, fand sich in einer verzückenden Komposition mit dem Wind und dem leisen Rascheln der Blätter. Und auf einmal erhob sich der Vogel in die Lüfte, glitt über das Wasser hinweg. Der Wind frischte auf und legte sich unter das Tier, um es sicher zu halten.

Fasziniert und gefesselt beobachtete Ben dieses Schauspiel der Natur. Er fühlte sich gut. Glücklich. Geborgen. Nichts und niemand konnte ihm hier etwas anhaben. Dies war seine Oase des Friedens.

Doch kaum war er diesem Gedanken gefolgt, spürte er die Anwesenheit von etwas Fremdem. Ein Dunkel in den Tiefen des Waldes, lauernde Augen im schillernden Wasser. Nichts hatte sich geändert an der Landschaft, die ihn umgab, und doch war mit einem Mal alles anders. Das Gefieder des Vogels schien wie Blut, sein Schnabel eine Waffe des Schmerzes. Die Landschaft und alles in ihr waren in trügerische Stille gehüllt. Nur der Wind trug ein unheimliches Raunen mit sich.

Furcht erfasste Ben, umklammerte seine Brust und nahm ihm den Atem, und er wusste Eines mit untrüglicher Sicherheit: wenn er sich jetzt umdrehte, würde etwas Schreckliches geschehen. Vergeblich versuchte er, das Kribbeln zwischen seinen Schulterblättern zu ignorieren. Ein nervöses Zittern hatte seine Hände erfasst und breitete sich schleichend auf seinen gesamten Körper aus.

Da bäumte sich der Wind plötzlich mit gewaltvollem Brüllen auf und ergriff den Vogel, riss ihn mit sich, während das schöne und furchtbare Wesen den Kampf willkommen hieß und sich vom Unterworfenen zum Gebieter emporschwang. Eine neue Nuance webte sich in den Gesang des Vogels; schrill, disharmonisch, fast schmerzhaft in den Ohren tönend. Ben presste die Hände an den Kopf, um das durchdringende Geräusch auszusperren. Der Wind riss an ihm und war mit einem Mal so eisig, dass die Kälte wie klirrendes Feuer auf Bens Haut brannte. Und der Vogel kreischte und sein Blick erfasste Ben. Augen, die furchtbar tief und fremdartig waren, hielten ihn mit unsichtbaren Fesseln.

Ben wollte die Flucht ergreifen. Jeder Muskel in seinem Körper schrie ihm zu, sich zu bewegen, zu rennen, sich zu verstecken. Und doch rührte er sich nicht vom Fleck, sondern starrte dem namenlosen Wesen entgegen. Der See und die Bäume verloren an Präsenz, lösten sich langsam auf, als hätten sie niemals existiert, und der Wind berührte Bens Haut nicht mehr.

Dann gab es von einem Moment zum anderen keine andere Realität mehr als die Gegenwart des Wesens. Es gab nichts außer Augen so kalt wie Kristallsplitter und dem schmerzhaften Gellen des Gesangs, der schon lange keiner mehr war. Ben versuchte, zurückzuweichen und ...


****


Ben öffnete die Augen, erkannte sein Bett, in dem er lag und identifizierte seinen altmodischen Wecker als Quelle für das unangenehme Geräusch. Verärgert schlug er nach dem Gerät und traf zielsicher die harte Kante des Nachttisches. Das brachte ihn vollends in die Realität zurück.

Sich die schmerzende Hand reibend schielte Ben in Richtung Wecker. 8:00 Uhr. War es tatsächlich schon so spät? Nun ja, die Bezeichnung »spät« erschien unpassend. Zumindest seiner Empfindung nach. Würde man ihn fragen, fände keine Vorlesung vor 12:00 Uhr mittags statt. Aber natürlich hatte er in dem Fall überhaupt nichts zu sagen.

Seufzend fiel Ben wieder zurück ins Bett.

Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte im Augenblick nicht sagen was, aber das nagende Gefühl ließ ihn nicht los. Am besten wäre es wohl, noch einmal darüber zu schlafen. Ganz kurz nur. Vielleicht für zehn Minuten. Oder elf. Oder was auch immer.

Und wenn er in den Traum zurückfiel?

Na und? Er kehrt seit deiner Kindheit wieder, aber es ist nur ein Traum, lästig, doch nicht mehr. Kein Grund, den Schlaf zu meiden, beruhigte sich Ben. Wie so häufig gab er dem Druck seiner allzu schweren Lider nach, schloss ergeben die Augen und wartete.

Nichts geschah. Durch das Fenster am Fußende seines Bettes schien die Frühlingssonne mit einer ihm unverständlichen Gehässigkeit und Intensität, als wolle sie ihn braten wie ein Spiegelei auf einem Stein. Er könnte aufstehen und den Rollladen herunterlassen. Jedoch würde er sich dazu bewegen müssen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als liegen zu bleiben und sein Bestes zu tun, die brütende Hitze zu ignorieren.

Endlich glitt Ben dann doch in einen Halbschlaf hinüber und war guter Hoffnung, im nächsten Moment wieder tief und fest zu schlummern, als ihn erneut ein schrilles Geräusch aufschreckte.

Diesmal war es nicht der Wecker sondern das Telefon. Fluchend zog er sich die Decke über den Kopf und hoffte, dass der Anrufer schnell aufgeben würde. Dieser zeigte jedoch unsägliche Hartnäckigkeit, bis Ben sich zähneknirschend aufsetzte und das Telefon von der Ladestation an sein Ohr riss.

»Ja?«, knurrte er.

»Einen wunderschönen guten Morgen!«, tönte es ihm entgegen und provozierte ein unwilliges Schnauben von seiner Seite. »Sag bloß, du liegst noch im Bett?«, wagte die Anruferin zu fragen.

»Was denkst du, wie die Antwort auf deine Frage lauten könnte, liebste Liz?«, knurrte Ben erneut.

»Zumindest scheinst du schon fit genug für vollständige Sätze zu sein.«

»Und fit genug, wieder aufzulegen. Was willst du?«

Selbstverständlich zeigte Liz keinerlei Anzeichen, sich von seiner Unfreundlichkeit abschrecken zu lassen. Stattdessen lachte sie und flötete: »Vielleicht rufe ich nur an, um deine liebliche Stimme zu hören, Sonnenschein.«

Entnervt presste Ben seinen Hinterkopf ins Kissen. »Ich lege jetzt auf. Muss zur Vorlesung«, log er. Vermutlich. Wie viel Uhr war es inzwischen? Und welcher Tag?

Auf der anderen Seite der Leitung lachte es erneut. »Ich bin enttäuscht, Ben.«

»Nicht mein Problem.«

»Oh, sehr wohl dein Problem. Wenn ich enttäuscht bin, bin ich schlecht gelaunt. Und wenn ich schlecht gelaunt bin, bekommst du es zu spüren«, erklärte Liz in unnötiger Länge.

»Du bist nicht schlecht gelaunt.«

»Und du musst nicht zur Vorlesung.«

»Als ob du wüsstest –«

»Ich weiß. Ich kenne deinen Vorlesungsplan. Und abgesehen davon ist heute Samstag, Idiot.«

Das war es also, was nicht stimmte. Oder vielmehr, was absolut richtig war. Und wieso hatte Bens Wecker an einem Samstagmorgen geklingelt? »Du hast gestern Abend heimlich meinen Wecker gestellt!«, knurrte er ins Telefon.

»Absolut richtig. Ich sehe schon, dass sich so langsam dein Gehirn einschaltet.«

»Liz …«

»Dann kannst du ja jetzt genauso gut aufstehen. Die Sonne scheint, es wird ein schöner Tag und in zehn Minuten stehen Arne und ich vor deiner Tür. Also, hopp hopp. Und, bevor ich es vergesse: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mr. Schlafmütze.«

Noch ehe Ben reagieren konnte, hörte er ein leises Klicken in der Leitung und die Verbindung wurde unterbrochen. Recht unsanft beförderte er das Telefon wieder zurück auf die Ladestation, wälzte sich umständlich aus dem Bett und griff nach der Jeans, die er am Abend zuvor teils auf dem Schreibtischstuhl, teils auf dem Boden drapiert hatte. Er mochte Liz, aber ihre unerträglich gute Laune am frühen Morgen konnte er nicht teilen. Ihm persönlich war es lieber, vor dem Mittag nicht angesprochen, geschweige denn, zu irgendwelchen zwischenmenschlichen Interaktionen gezwungen zu werden.

Doch wenn Liz androhte, in zehn Minuten vor seiner Tür zu stehen, dann würde sie das mit größter Wahrscheinlichkeit auch tun. Einen kurzen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sich einfach tot zu stellen, doch verwarf ihn als nicht durchführbar sofort wieder.

Eine Handvoll eiskaltes Wasser im Gesicht vertrieb die gröbsten Spuren des Schlafes und eine Tasse Kaffee mit viel Milch, deren Aufgabe darin bestand, den bitteren Geschmack zu minimieren, verbesserte ein wenig seine Laune.

Während er noch in der Küchennische seiner kleinen Wohnung saß, klingelte es auch schon an der Tür. Er nahm in aller Ruhe einen weiteren Schluck aus seiner Tasse und schob zwei ungewaschene Teller, die seit vorgestern neben dem Waschbecken standen, etwa einen Zentimeter zur Seite. Erst dann ging er betont langsam in Richtung Tür. Wohl wissend, dass die zwei Freunde ihn nicht sehen konnten. Trotzdem verschaffte ihm dieser kleine Akt der Rebellion ein gewisses Gefühl der Genugtuung.

Es klingelte ein zweites Mal und Ben erlaubte sich ein grimmiges Grinsen. Wer ihn ohne Mitleid zu dieser Unzeit aus dem Bett warf, sogar unverschämt genug war, seinen Wecker zu stellen, musste bestraft werden. Zumindest etwas. Er drehte den Schlüssel in der Tür einmal gegen den Uhrzeigersinn, nur um zum wiederholten Male festzustellen, dass dies die falsche Richtung war. So lautlos wie irgend möglich drehte er ihn andersherum, öffnete die Tür einen Spalt und ging zurück zu seiner Tasse.

Während Ben neuen Kaffe in seine Milch träufelte, schwangen die ersten Strähnen von Liz’ dunkelbrauner Mähne ins Zimmer, gefolgt von ihrem grinsenden Gesicht. »Na, du Schlafmütze? Weißt du noch immer nicht, wie deine Tür aufgeht?«

Ben deutete zur offenen Tür, durch die in diesem Augenblick Arne schlurfte. »Offensichtlich weiß ich es doch. Und außerdem … Ich habe die Tür im Verdacht, absichtlich die Schließ– und Öffnungsrichtung zu wechseln.«

Arne trat zu Ben in die Kochnische und griff nach der Kaffeekanne. »Ist noch was da?« Im Gegensatz zu Liz machte der hochgewachsene junge Mann einen alles andere als wachen Eindruck. Die schulterlangen Haare hingen wirr von seinem Kopf, der vorwitzige Kinnbart war zerzaust und dunkle Ringe unter den Augen deuteten auf eine zum größten Teil durchwachte Nacht hin. Vermutlich hatte er sich, wie des Öfteren, in einem Buch verloren und war in der Frühe von Liz erbarmungslos aus dem Bett gezerrt worden.

Ben schob eine Tasse in Arnes Richtung und schenkte ihm einen verständnisvollen Blick, woraufhin Liz seufzend die Augen verdrehte. Sie steuerte auf Bens kleinen antiken Tisch zu, den ihm seine Großmutter zum Einzug in die erste eigene Wohnung vermacht hatte. Stolz platzierte sie eine Kuchenform darauf. »Den habe ich selber gemacht.«

»Himmel hilf«, erwiderte Ben und verdiente sich einen strafenden Blick.

»Ja, vielleicht hätte ich es lieber lassen sollen«, erwiderte sie schnippisch und tätschelte Bens Bauch, dessen Umfang in den letzten Jahren unübersehbar zugenommen hatte. Grummelnd wich er ihrer Hand aus und wandte sich Arne zu, der nicht nur groß, sondern auch bemerkenswert kraftvoll war. Ben seufzte im Stillen. Wie kann man nur einerseits so gemütlich wirken und andererseits regelmäßig ins Fitnessstudio rennen?

Arne zuckte indes mit den Schultern als könne er Bens Gedanken lesen und zauberte erst ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht und dann eine CD aus dem Nichts und reichte sie Ben. Es war »blödes Klassik-Gedudel«, wie Liz es bezeichnen würde. »Die wolltest du doch. Hatte keine Zeit mehr, sie zu verpacken. Oder keine Lust. Such dir was aus. Alles Gute zum zweiundzwanzigsten auf jeden Fall.«

»Cool. Danke.« Ben nahm das Geschenk entgegen. Er liebte klassische Musik und wollte dies auch gerade erneut hervorheben, als plötzlich einige Briefumschläge vor ihm auf den Küchentresen fielen.

»Deine Post«, erklärte Liz wie selbstverständlich und Ben runzelte die Stirn.

»Aha. Und warum ist die nicht in meinem Briefkasten?«

»Ist mir zugeflogen. Was denkst du denn?«

»Ich denke, dass meine Brieftaube nicht sehr zuverlässig ist, wenn sie jedem x-Beliebigen meine Post gibt.«

»Bin ich etwa jede x-Beliebige?«, empörte sich Liz.

»Für den Postboten schon.«

»Ich sehe aber vertrauenswürdig aus!«

»Äußerlichkeiten können täuschen.«

In dem Moment räusperte sich Arne klar vernehmlich und unterbrach Liz, noch bevor sie zu einer gepfefferten Antwort ansetzen konnte. Auch Ben folgte der unausgesprochenen Aufforderung seines Freundes. »Okay, okay. Also. Wie wär’s mit einem Stück leckeren Kuchen?«, schlug er vor und versuchte dabei versöhnlich und nicht etwa spöttisch zu klingen.

Liz schnaubte und warf ihr langes braunes Haar mit einer ruckartigen Kopfbewegung über die Schulter. »Du weißt doch noch gar nicht, wie er schmeckt«, grollte sie. »Außerdem will ich jetzt lieber in den Park gehen. Das Wetter ist viel zu schade, um den ganzen Tag drinnen herumzusitzen.«

»Ich sitze aber gerne drinnen rum«, beeilte Ben sich, klarzustellen »Außerdem …« Aber noch bevor er auf seine Sonderrechte als Geburtstagskind pochen konnte, unterbrach ihn Liz, wie sie es so häufig tat.

»Interessiert keinen. Wir gehen raus und du kommst mit. Arne?«

Der Angesprochene nahm einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und enttarnte sich als hinterhältiger Verräter, indem er mit den Schultern zuckte.

Dann sprach er mit andächtiger Stimme:


Die Sonne lacht

Zu dir hinunter.

Auf dich herab.

Gib Acht, mein Kind. Gib Acht.


Es war ein Vers, der ihm vermutlich soeben erst in den Sinn gekommen war.

Ben räusperte sich. »Arne?«

»Hm?«

»Muss man das verstehen?«

»Du musst gar nichts im Leben.«


****


Ben kniff die Augen zusammen und blickte einem unangenehm großen Schäferhund hinterher, der, wie es schien, unbeaufsichtigt umher tollte. Bis zum Glück doch ein scharfer Ruf ertönte und das Tier mit beeindruckender Geschwindigkeit in der Ferne hinter einer Ansammlung von Bäumen verschwand.

Wie es zumeist der Fall war, hatte Liz ihren Willen durchgesetzt, und nun schlenderten die drei Freunde durch einen kleinen, aber liebevoll angelegten Stadtpark.

Die Sonne war unerwartet warm auf Bens Haut. Er hatte die Ärmel seines Hemdes bis zu den Oberarmen hinaufgeschoben. Hin und wieder glaubte er sogar, er könne bald ins Schwitzen kommen, doch dann trugen kühle Böen die Hitze wieder mit sich fort. An– und abschwellend rauschte der Wind in den Ästen kahler Bäume, beinahe so, als trügen sie schon ein dichtes Blätterkleid. Oder vielleicht würde dies auch gänzlich anders klingen? Ben ließ seine Gedanken nicht bei jener Frage verweilen. Für einen winzigen Moment nur dachte er an die Geräusche des Waldes in seinem Traum. Dann atmete er tief durch.

Die Luft war frisch. Frühlingshaft, wie man es erwarten mochte und realer, als Bens Vorstellungskraft es sich hätte ausmalen können. Jedes Jahr stellte er aufs Neue fest, wie sehr er den Frühling tatsächlich schätzte. Nur, um es in der darauffolgenden Zeit wieder zu vergessen.

Und um es wieder neu entdecken zu können, hob Ben in Gedanken hervor und lächelte, als eine stärkere Windböe über ihn hinwegfegte. Sie griff nach seiner Kleidung und seinem Haar. Es fühlte sich beinahe neckisch an, spielerisch.

Noch größere Freude schien der Wind mit Liz’ dunkler Mähne zu haben. Er hob sie an, zerzauste sie und blies sie wieder und wieder ins Gesicht der jungen Frau. Liz schien sich nicht weiter daran zu stören. Sie ging neben Ben dahin, summte leise vor sich hin. Und zwischen wilden Strähnen hindurch lächelte sie ihm zu. Er erwiderte diesen Ausdruck fast automatisch.

Liz zwinkerte schelmisch, als wolle sie hervorheben, wie gut ihre Idee ins Freie zu gehen, gewesen war. Daraufhin warf Ben ihr einen bösen Blick zu, jedoch lag keine Ernsthaftigkeit dahinter. Genauso gut hätte er mit einem Grinsen antworten können.

Eine besonders starke Windböe kam heran und trug das leise Fluchen von Arne mit sich. Dieser hatte wie immer einen kleinen Zeichenblock bei sich, in dem er alle möglichen Situationen und Dinge – existent oder auch nicht – skizzierte und Gedankenfetzen notierte, die später zu Gedichten werden sollten. Jener Gewohnheit folgend, war er schon zu Anfang des Spaziergangs hinter Ben und Liz zurückgefallen. Die beiden kannten seinen Wunsch, beim kreativen Schaffen nicht gestört zu werden und gingen langsamen Schrittes voraus.

Erneut atmete Ben tief durch und schloss mit einem zufriedenen Seufzen die Augen. Nur für einen Moment. Doch lange genug, um prompt über etwas zu stolpern, das vor ihm auf dem Boden gelegen haben musste. Statt sich nach dem Übeltäter umzusehen, versuchte Ben seine Würde zu bewahren und weiterzugehen, als sei nichts geschehen. Wie zu erwarten, hörte er Liz neben sich kichern und verdrehte schicksalsergeben die Augen.

Liz war nun schon seit Jahren eine seiner besten Freunde, von denen er nicht viele hatte. Genau genommen zählte er nur sie und Arne dazu. Eine Tatsache, die Ben keineswegs störte. Denn er tendierte nun einmal nicht dazu, fremden Leuten unverdient Vertrauen zu schenken, und brauchte umso länger, enge Beziehungen aufzubauen. Arne kannte er schon seit der fünften Klasse im Gymnasium und hatte ihn anfangs als zurückgezogenen Sonderling betrachtet, der wenig sprach und in seiner eigenen, fernen Welt lebte.

Eine Erinnerung, die Ben immer wieder zu einem stillen Lächeln verleitete, da ihm sehr wohl klar war, dass ihn selber seine Mitschüler damals mit ähnlichen Augen gesehen hatten. Auch die Bezeichnung arrogant war schon gefallen, doch damit konnte er sich nicht identifizieren. War es denn so überheblich, seine Zeit nicht mit jedem dahergelaufenen Idioten verschwenden zu wollen?

Nachdem Arne und er damals unfreiwillig für eine Schulaufgabe Zeit miteinander hatten verbringen müssen, stellten sie überrascht fest, wie gut sie miteinander auskamen und waren von dem Tag an nicht mehr zu trennen gewesen. Zwei Jahre später hatte sich eine vorlaute und doch liebenswerte Fünftklässlerin in ihre verschworene Gemeinschaft geschlichen, indem sie sich einfach zu ihnen setzte und feststellte: »Ich bin Liz. Eigentlich Eliza, aber wenn ihr mich so nennt, werfe ich euch aus dem nächsten Fenster.«

Während Ben in der Vergangenheit schwelgte, setzte er weiterhin einen Schritt vor den anderen, hörte das Knirschen des Kiesweges unter seinen Schuhen. Erst unbewusst, dann immer klarer als seine Wahrnehmung in die Gegenwart zurückkehrte. Er spürte die Bewegung seiner Beine, das regelmäßige An- und Entspannen seiner Muskeln, und in ihm breitete sich eine kuriose Mischung aus Wachheit und Erschöpfung aus. Zumindest aber fühlte er sich nicht mehr, als sei er gerade eben erst aus dem Schlaf gerissen worden. Als läge der Moment, in dem er schweißgebadet aufgeschreckt war, nicht bereits in der Vergangenheit. Aufgeschreckt aus …

»Ben?«, unterbrach Liz unvermittelt die Stille.

Erleichtert ließ er sich von ihrer Stimme aus seinen Gedanken reißen. »Hm?«, brummte er, denn seine wahren Empfindungen mussten nicht allzu offensichtlich sein.

»Weißt du schon, was du diese Semesterferien machen willst?«

»Keine Ahnung. Nichts Bestimmtes. Warum?«

»Kann ich mich nicht dafür interessieren, was mein bester Freund in seinen Ferien geplant hat?«

»Nicht, wenn du so fragst. Du willst auf irgendetwas hinaus.«

Und Liz warf ihm einen bösen Blick von der Seite zu, woraufhin Ben nicht wiederstehen konnte, ihr verschwörerisch zuzuzwinkern. Oder schelmisch. Oder – irgendwie. Der Akt des Zwinkerns fühlte sich aus unerfindlichen Gründen seltsam an, doch Ben tat sein Bestes, diese Wahrnehmung zu überspielen. Er griff nach einem herabhängenden Ast eines nahen Baumes, riss ein Blatt, welches den Winter überdauert hatte, vom Zweig und reichte es Liz mit einer leichten Verbeugung. »Entschuldige bitte mein unsensibles Verhalten. Nimmst du dies als ein Zeichen meiner Demut an?«

Liz riss ihm das Blatt aus der Hand und steckte es sich ins Haar. »Demut? Ha!«

Nachdem sie etwa eine Minute wieder schweigend nebeneinander her gegangen waren, stupste Ben Liz in die Seite. »Was wolltest du mich denn nun fragen?«

»Ach, auf einmal?« Liz strich sich mit der linken Hand durch ihr langes dunkles Haar und korrigierte den Sitz des Blattes.

»Du kennst doch noch meine Tante Susan?«